MONTAG, 18.35 UHR

Henning und Santos drängten sich wieder durch die Reporter hindurch und fuhren zum Präsidium. »Und, zufrieden?«, fragte Santos.

»Jetzt ja. Es sei denn, sie ist die beste Schauspielerin Deutschlands.«

»Sie ist einfach ehrlich, doch wir haben den Blick dafür verloren, sondern gehen immer erst mal vom Schlechtesten aus. Ist doch so, oder?« »Hm.«

»Nix hm. Es stimmt. Sie war's nicht, sie hat damit nichts zu tun, und wir streichen sie endgültig von unserer Liste.«

»Jawohl, Boss«, antwortete Henning lächelnd. »So ist's recht.«

Im Präsidium fanden sie nur noch Harms vor, der sich gerade zum Gehen bereitmachte.

»Hi«, sagte Henning und legte seine Jacke ab. »Ich dachte schon, ich würde gar nichts mehr von euch hören«, entgegnete Harms kurz angebunden. »Das hatte einen guten Grund - es gab nichts zu berichten. Wir waren bei Tönnies und Jürgens, bei der Bruhns und bei dem ehemaligen Tontechniker. Wir haben uns mit einer Horde von Reportern angelegt ... Mehr war nicht. Und hier?«

»Nichts«, war die lapidare Antwort von Harms.

»Hat keiner von der Soko irgendwas rausgefunden?«,

fragte Santos zweifelnd.

»Nein, und wenn, erfahren wir es wohl erst morgen früh. Um halb neun ist Lagebesprechung.« »Und Rüter?«

»Habe ich nicht zu Gesicht bekommen. Die Zeit wird knapp.«

»Weißt du was? Dann soll Rüter seinen Mist allein machen. Ich werde mich mit ihm ganz gewiss nicht anlegen. Sollte er sagen, wir sind raus, werde ich das ohne Wenn und Aber akzeptieren.« Henning kratzte sich am Kinn und fuhr fort: »Übrigens, das mit der DNA war eine Fehlinformation. Sowohl Tönnies als auch Jürgens haben eingestanden, einem Irrtum aufgesessen zu sein. Du brauchst dir also keine Gedanken mehr zu machen, dass ...« »Ich habe mir keine Gedanken gemacht. Noch was? Es ist halb sieben durch, und ich möchte nach Hause.« »Ja, da wäre noch eine Kleinigkeit«, sagte Santos. »Wie es aussieht, war Bruhns pädophil. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass der Mord an dem unbekannten Mädchen vor einem Jahr ebenfalls mit ihm zusammenhängt. Dieses Mädchen war bei Bruhns im Haus, das haben wir sowohl von Frau Bruhns als auch von der Haushälterin erfahren ...«

»Und das erfahre ich so nebenbei? Nun gut, was soll's, wir sprechen morgen darüber. Ich habe einen wichtigen Termin. Sonst noch was?«, sagte er und sah auf seine Armbanduhr. Er wirkte nervös. »Nein, nichts weiter. Schönen Abend noch.« »Den werde ich garantiert nicht haben.« Harms zog seinen Mantel über, nahm seine Aktentasche, die er mit sich führte, seit Henning ihn kannte, und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Sie warteten, bis die Tür ins Schloss gefallen war, dann fragte Santos: »Was ist bloß mit Volker los? Als wären wir Fremde für ihn.« »Oder als wäre er sauer auf uns.« »Oder ihm macht der Druck von oben zu schaffen.« »Oder er hat private Probleme. Egal, er ist unser Vorgesetzter, aber so wie heute habe ich ihn noch nie erlebt. Gestern war er doch noch ganz anders drauf. Ich kapier das nicht. Ich dachte immer, wir wären eine verschworene Gemeinschaft.«

»Das dachte ich auch. Komm, wir fahren heim und bestellen uns eine Pizza.«

Henning nickte, und sie verließen das Präsidium. Es war ein höchst unbefriedigender Tag gewesen, der sie bei der Suche nach dem Täter nur unwesentlich vorangebracht hatte. Henning hasste solche Tage, denn er wusste aus Erfahrung, je mehr Zeit verging, desto geringer wurde die Chance, den Mörder zu fassen. Noch hatte er Victoria Bruhns und Weidrich nicht ganz von der Liste gestrichen, doch er würde sich hüten, dies Lisa Santos mitzuteilen. Er hatte das Gefühl, dass auch Weidrich nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte, vielleicht hatte er auch aufgrund seines Alkoholmissbrauchs Wesentliches vergessen. Bruhns hatte in seinem Leben unzählige Affären gehabt, und er war, so viel stand für Henning fest, pädophil gewesen. Womöglich war er sogar in einen Mord an einem Kind verwickelt. Gründe genug, ihn zu beseitigen, aber warum auch Kerstin Steinbauer ihr Leben lassen musste, lag noch im Dunkeln.

Als sie in Lisas Wohnung ankamen, versuchte er, die Gedanken an den Fall zu verdrängen. Es gelang ihm nicht. Der Abend war einer der schweigsamsten, seit er und Lisa zusammen waren. Sie ließen sich Pizza und Tomatensalat kommen, tranken Wasser. Der Fernseher lief, während beide ihren Gedanken nachhingen, ohne darüber zu sprechen.

Um kurz vor neun klingelte Santos' Handy. »Koslowski, Kripo Düsseldorf. Tut mir leid, wenn ich so spät noch störe, aber ich habe ein paar interessante Informationen für euch. Bereit?«

»Immer raus damit«, sagte Santos, legte sich Block und Stift zurecht und stellte das Telefon laut. »Wir sind noch immer an der Steinbauer dran, irgendwas scheint mit ihr nicht zu stimmen. Von dem Luxusapartment habe ich ja schon erzählt, aber als wir es gestern Abend unter die Lupe genommen haben, mein lieber Scholli, da haben wir erst mal gesehen, was die wirklich alles besessen hat. Heute Morgen haben wir die Sachen schätzen lassen, alles in allem ist allein die Einrichtung inklusive Hi-Fi-Anlage und Fernseher so um die zweihunderttausend wert. Entweder hatte sie einen Gönner, für den sie die Beine breit machte und der sich das einiges kosten ließ, oder sie war in kriminelle Geschäfte verwickelt. Dass ein Mädchen mit achtzehn, das im Waisenhaus groß geworden ist, so viel Geld hat, schien uns auch damit kaum zu erklären. Daraufhin haben wir natürlich ihre finanziellen Verhältnisse überprüft, und da wurde unser Erstaunen noch größer. Sie hatte mindestens zwei Konten, auf einem sind etwas über vierhunderttausend Euro, auf dem anderen sogar über eine halbe Million. Das sind Dimensionen, wo wir einen Gönner, der seinen Spaß mit einem Mädchen haben will, ausschließen. Ich kenne niemanden, der fürs Bumsen so viel Geld ausgibt. Die Frage ist, woher stammt das Geld? Es handelte sich jedes Mal um Bareinzahlungen, das heißt, wir können die Quelle nicht zurückverfolgen. Sie muss es bar erhalten haben, denn sie hat es cash eingezahlt. Immer so zwischen zehn- und fünfzehntausend Euro alle zwei bis drei Wochen auf jedes der beiden Konten. Woher das Geld stammt, werden wir versuchen herauszufinden, aber ich fürchte fast, das wird ins Leere laufen. Die war verdammt clever.«

»Das ist ein Hammer ...«

»Wir haben auch die familiären Verhältnisse überprüft, aber es gibt nach unseren bisherigen Erkenntnissen keinerlei Verwandte. Das heißt, die Steinbauer war über einen langen Zeitraum auf sich allein gestellt, bis auf die Mitbewohner im Waisenhaus und die dortigen Betreuer ...«

»Seit wann verfügte sie über so viel Geld?«, wollte Santos wissen.

»Sie verließ das Waisenhaus kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag. Zehn Monate später bezog sie die Wohnung, die sie bar bezahlt hat, Wert gut sechshunderttausend Euro, wie uns die Immobilienfirma mitteilte. Jemand hat für sie gebürgt, aber offenbar unter falschem Namen und mit falschen Papieren. Dann ging es finanziell stetig bergauf. Ich tippe jetzt einfach mal, dass sie nicht nur eine Affäre mit Bruhns hatte, sondern sie vielleicht sogar geschäftlich miteinander zu tun hatten. Fragt sich nur, welche Geschäfte tätigt ein Endvierziger mit einer Achtzehnjährigen? Das ist eine Frage, der wir alle nachgehen sollten.«

»Danke, das wirft ein völlig neues Licht auf die ganze Sache. Wir bleiben dran, und sobald wir Infos haben, lassen wir sie euch zukommen.«

»Okay. Das Problem ist die Person Bruhns«, sagte Koslowski. »Wir sind jetzt schon angewiesen worden, keinerlei Informationen an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, nicht öffentlich nachzufragen, ob irgendjemand die Steinbauer kannte et cetera pp. Außerdem haben uns ein paar Spatzen geflüstert, dass möglicherweise schon in den nächsten Tagen das LKA oder eine andere Institution die weiteren Ermittlungen übernehmen wird. Was das heißt, könnt ihr an den Fingern einer Hand abzählen. Wir sind im Prinzip schon raus, uns wurden Handschellen angelegt. Irgendwas stinkt hier zum Himmel.«

»Euch wurde der Fall entzogen? Wegen der Steinbauer?«

»Noch nicht, und es kann sein, dass wir weitermachen dürfen, allerdings mit gedrosseltem Tempo und immer schön unter Beobachtung von oben. In meinen zweiundzwanzig Dienstjahren habe ich so etwas erst ein Mal erlebt, und da ging es um einen Politiker, der eine Größe im organisierten Verbrechen war beziehungsweise noch immer ist. Gegen ihn wurde nie ein Verfahren eingeleitet, obwohl alle von seinen ach so sauberen Geschäften wussten. Aber uns wurde die Tür vor der Nase zugeschlagen, als wir etwas intensiver zu ermitteln begannen. Seitdem wissen wir, dass gegen gewisse Personen nicht ermittelt werden darf. Wir halten uns daran. Fragt sich nur, warum eine Achtzehnjährige derart geschützt wird.«

»Das fragen wir uns jetzt allerdings auch. Aber vielen Dank für die ausführlichen Infos.«

»Gern geschehen, ihr seid doch genauso arme Socken wie wir. Macht euch auf etwas gefasst. Vermutlich werdet ihr sehr bald von dem Fall abgezogen. Seid also vorsichtig, das ist der einzige Rat, den ich euch geben kann.« »Werden wir sein. Nochmals danke und einen schönen Abend.«

»Den werde ich nicht haben, Bereitschaft, wenn ihr versteht. Vielleicht bis bald.«

Santos drückte auf Aus und sah Henning an. War sie eben noch müde und erschöpft gewesen, so war sie nun hellwach.

»Die Steinbauer war also kein zufälliges Opfer, sondern wurde gezielt umgebracht«, murmelte Henning. »Was hat sie gemacht, und woher hatte sie die viele Kohle?« »Ich hoffe, das finden wir noch raus, bevor auch wir von dem Fall abgezogen werden. Ich krieg das nicht auf die Reihe: Bruhns ist pädophil, vögelt mit einer Achtzehnjährigen, die Geld hat wie Heu, beide werden in Bruhns' Villa umgebracht ... Was hat sie miteinander verbunden? Von Bruhns hat die Steinbauer das Geld ganz gewiss nicht bekommen, irgendwo habe ich mal gelesen, dass er ein richtiger Geizkragen gewesen sein soll. Was also?«

»Wühlen wir doch einfach ein bisschen im Dreck«, bemerkte Henning trocken. »Aber nicht mehr heute, ich bin zu müde.«

»Mir kommt da eine Idee: Könnte Volkers Verhalten damit zusammenhängen, dass man ihm gesagt hat, bis hierher und nicht weiter, und er sich nur nicht traut, uns das zu sagen? Vielleicht hat ihm Rüter schon gestern unter vier Augen entsprechende Anweisungen gegeben, und deshalb hat sich Volker heute Morgen so seltsam benommen, als wir ihn auf die DNA angesprochen haben? Wir hatten doch bisher immer ein hervorragendes Verhältnis zu ihm, aber seit heute ist er wie ausgewechselt. Was meinst du?«

»Es wäre zumindest eine Erklärung. Fragen wir ihn doch morgen einfach mal. Jetzt lass uns schlafen gehen, ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten.« Kurz darauf gingen sie zu Bett, wünschten sich eine gute Nacht und drehten sich zur Seite. Doch weder er noch sie fanden Schlaf. Der Anruf aus Düsseldorf beschäftigte beide, ohne dass sie darüber sprachen. Erst in den frühen Morgenstunden schliefen sie ein, um bereits zwei Stunden später geweckt zu werden. Sie hatten eine miserable Nacht hinter sich, und wie es aussah, würde der Tag nicht anders werden. Es sei denn, es geschah ein Wunder. Aber weder Henning noch Santos glaubten an Wunder, dazu waren sie schon zu lange bei der Polizei.

 

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